Umfassender Überblick über den State of the Art der Computerspieleforschung
Eine Rezension von Michael Mosel
Sachs-Hombach, Klaus und Jan-Noël Thon (Hg.): Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Köln: Herbert von Halem, 2015.
Auch die noch relativ jungen Game Studies haben bereits erste Konsolidierungsbewegungen erfahren und disziplinär kanonisierte Ansätze entwickelt. Der Sammelband liefert einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand deutschsprachiger und internationaler Game Studies Forschung. Er ist aufgeteilt in die drei großen Themenbereiche „Spiel“, „Nutzung“ und „Kontexte“, die von erfahrenen Autor_innen anschaulich und umfassend reflektiert werden. Dabei beschränken sich die Autor_innen nicht auf medienwissenschaftliche Zugänge, vielmehr zeichnet sich der Sammelband durch seinen hohen Grad an Interdisziplinarität aus.
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Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des über 500 Seiten starken Sammelbandes verrät dem Game Studies Kenner, dass hier viele bekannte Namen der deutschsprachigen Computerspielewissenschaft versammelt sind. Auch die beiden Herausgeber sind in der deutschen Medienwissenschaft keine Unbekannten. Prof. Sachs-Hombach ist insbesondere bekannt durch seine langjährige medienwissenschaftliche Forschung zu philosophischen Bildtheorien, während Dr. Thon seit vielen Jahren zur transmedialen Narratologie forscht und publiziert.
Der Sammelband besteht aus einer Einleitung der Herausgeber und 12 Aufsätzen, die jeweils paritätisch in die drei großen Themenbereiche „Spiel“, „Nutzung“ und „Kontexte“ aufgeteilt sind. Die Titel der Aufsätze beginnen dabei jeweils mit „Game Studies und …“ und enden mit dem im jeweiligen Aufsatz besprochenen spezifischen (disziplinären) Teilgebiet. So ergeben sich Kapitelnamen wie beispielsweise „Game Studies und Genretheorie“, „Game Studies und Medienpsychologie“ und „Game Studies und die Kulturwissenschaft“.
Dieser Aufbau verdankt sich dabei der Einsicht, dass die Komplexität und Multidimensionalität des Forschungsgegenstandes Computerspiel interdisziplinäre Forschung geradezu einfordert. Transdisziplinäre Zusammenarbeit ist somit weniger ein Desiderat als vielmehr eine Chance, die sich aus dem Fehlen disziplinärer Kohärenz ergibt. In diesem Sinne versteht sich der Sammelband als Beitrag zur bereits erwähnten Ausdifferenzierung wissenschaftlicher und journalistischer Diskurse über Computerspiele (S. 14).
Da im Folgenden nicht jeder einzelne der Aufsätze des Sammelbandes vollumfänglich gewürdigt werden kann, wird exemplarisch der erste Teil des Buches, Themenbereich „Spiel“, detaillierter besprochen. Die Aufsätze des ersten Teils stehen dabei – was ihre inhaltliche Qualität und Reichweite anbelangt – stellvertretend für alle Aufsätze des Sammelbands.
Im ersten Aufsatz des Themenbereichs „Spiel“ nähert sich Benjamin Beil dem Aspekt der Genretheorie innerhalb der Game Studies. Nach einer kurzen Schilderung der Probleme, denen wissenschaftliche Genreklassifikationen in Bezug auf Computerspiele zwangsläufig begegnen, liefert Beil einen kurzen allgemeinen Überblick zur Genretheorie mit Fokus auf filmwissenschaftliche Begriffsbildungen. Anschließend präsentiert er die in den Game Studies bekanntesten Genreklassifikationen, um sie aufgrund von Problemen ihre interne Stimmigkeit betreffend zu kritisieren und ein eigenes Modell zu präsentieren. Dieses zeichnet sich – die Vielfältigkeit des Mediums und die Tendenz zur Genrehybridisierung ernst nehmend – dadurch aus, dass es nicht versucht eindeutige Zuordnungskriterien zu definieren. Vielmehr zeigt Beil die relevanten diskursiven Strategien auf, die die (historische) Formierung von Genresystematiken begünstigen.
Anschließend an Beils Aufsatz und seine „Auseinandersetzung mit Genres in ihrer Funktion als ‚kommunikative Abkürzungen’ zwischen Produzenten und Rezipienten“ (S. 16) untersucht Gundolf S. Freyermuth in seinem Aufsatz zu Game Design das Verhältnis von Theorie und Praxis hinsichtlich der Gestaltung von Computerspielen. Dabei begreift er Game Design als eigenständige handwerklich-künstlerische Praxis, die schließlich in einer eigenständigen Forschungstradition mündete. Freyermuth geht folglich davon aus, dass sich die akademisch-theoretisch orientierten Game Studies parallel zu einer Forschungstradition aus dem Design entwickelt haben und bis heute koexistieren. Er schildert ihre historische Entwicklung und skizziert verschiedene Stränge und Positionen innerhalb der beiden Forschungstraditionen. Sein Aufsatz mündet in dem Desiderat und der Erkenntnis, dass die Game Studies noch unter theoretischen Inkohärenzen leiden und dringend eines disziplinären common grounds bedürfen. Dieser, so Freyermuth, ließe sich nur finden, wenn das Wissen der Game-Design-Theorie inkorporiert wird. Durch diesen Schritt sei es möglich „von exaptativen zu adaptativen Abstraktionen, zu Theorien der Computerspiel-Theoretiker“ (S. 97) zu gelangen.
Der Aufsatz von Jan-Noël Thon widmet sich der Frage, wie sich das Problem des computerspielspezifischen Erzählens an der Schnittstelle zwischen Computerspielforschung und transmedialer Narratologie verorten lässt. Dabei stellt Thon fest, dass es nach wie vor keine Computerspielnarratologie gibt. Er sieht dies in der Medialität des Computerspiels und dem Fehlen einer institutionalisierten, wissenschaftlichen Computerspieldisziplin begründet, wodurch es nur zu punktuellen Konvergenzen von Erkenntnisinteressen der beteiligten Disziplinen käme. Thon liefert in seinem Aufsatz einen Überblick über den Stand narratologischer Computerspielforschung, um anschließend genauer zu beschreiben, „auf welche Weise Computerspiele narrativ sind bzw. narrativ sein können und wie sich also die Narrativität von Computerspielen von der Narrativität anderer narrativer Formen […] unterscheidet“ (S. 112). Diese Beschreibung liefert Thon anhand von drei Bereichen: erstens untersucht er die Darstellung von Ereignissen in Computerspielen mithilfe der Unterscheidung zwischen narrativen und ludischen Ereignisdarstellungen; zweitens widmet er sich der Frage nach der Konstruktion von Storyworlds als intersubjektive (stabile) kommunikative Konstrukte; und drittens unterscheidet er verschiedene Formen und Funktionen von Erzählern in Computerspielen.
Der letzte Aufsatz des ersten Teils des Sammelbands setzt sich mit der Thematik der Rezeptionsästhetik auseinander und leitet so passend über in den zweiten Teil des Buches. Fahlenbrach und Schröter beginnen ihren Beitrag mit der Vorstellung aktueller Tendenzen rezeptionsästhetischer Game Studies. Anschließend unterbreiten sie einen Vorschlag zur Systematisierung kognitionstheoretischer Rezeptionsästhetik von Computerspielen. Sie setzen dabei Erkenntnisse aus der empirischen Kognitions- und Wahrnehmungsforschung in Verbindung mit einer medienwissenschaftlichen Perspektive, die ihren Blick auf textuelle Eigenschaften richtet und diese in Bezug auf ihre Wahrnehmungs- und Affektstruktur untersucht. Sie entwickeln schließlich ein rezeptionsästhetisches Modell zur Analyse von Computerspielen, das die Rezeptionsmodi ludisch, narrativ und sozial unterscheidet und in drei Wahrnehmungsbereiche (Kognition, Perzeption, Emotion) einteilt. In der Vorstellung ihres Modells zeigen sie anschaulich wie spezifische Darstellungsmodi und -verfahren gezielt kognitive Prozesse des Spielers steuern können. Den Abschluss ihres Aufsatzes bildet eine modellhafte rezeptionsästhetische Analyse des Computerspiels Journey (2012).
Innerhalb der drei großen Themenbereiche des Sammelbands gibt es eine mal mehr, mal weniger explizite Verbindung zwischen den Aufsätzen. Der Sammelband besticht durch das hohe Niveau der Argumentation seiner erfahrenen Autor_innen und meistert die Herausforderung mit Bravour, „eine detaillierte Karte des gegenwärtigen Standes der Game Studies sowohl im deutschsprachigen als auch im internationalen Rahmen“ (S. 14 f.) zu liefern. Nicht nur wird ein umfassender Überblick über den gegenwärtigen Stand deutschsprachiger und auch internationaler Game Studies Forschung gegeben; es werden darüber hinaus disziplinär kanonisierte Ansätze kritisch reflektiert und sinnvoll erweitert.
Sachs-Hombach, Klaus und Jan-Noël Thon (Hg.): Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Köln: Herbert von Halem, 2015. 504 S., broschiert, 36 Euro. ISBN: 978-3-86962-095-4
Inhaltsverzeichnis
Klaus Sachs-Hombach / Jan-Noël Thon
Einleitung: Game Studies und Medienwissenschaft ... 9
1. Spiel
Benjamin Beil
Game Studies und Genretheorie ... 29
Gundolf S. Freyermuth
Game Studies und Game Design ... 70
Jan-Noël Thon
Game Studies und Narratologie ... 104
Kathrin Fahlenbrach / Felix Schröder
Game Studies und Rezeptionsästhetik ... 165
2. Nutzung … 210
Leonard Reinecke / Sina A. Klein
Game Studies und Medienpsychologie ... 210
Jeffrey Wimmer / Jan-Hinrik Schmidt
Game Studies und MEdiensoziologie ... 252
Johannes Fromme
Game Studies und Medienpädagogik ... 279
Claudia Wilhelm
Game Studies und Geschlechterforschung ... 316
3. Kontexte … 342
Natascha Adamowsky
Game Studies und Kulturwissenschaft ... 342
Rolf F. Nohr
Game Studies und Kritische Diskursanalyse ... 373
Angela Schwarz
Game Studies und Geschichtswissenschaft ... 398
Jörg Müller-Lietzkow
Game Studies und Medienökonomie ... 448
Register ... 479
Autorinnen und Autoren ... 494
A Comprehensive Overview: State of the Art of Game Studies
The relatively new discipline of game studies has already experienced first consolidation movements and has developed canonized disciplinary approaches. This volume provides a comprehensive overview of the current state of German and international game studies research. It is divided into the three major themes “game”, “usage”, and “contexts” which are reflected upon vividly and comprehensively by experienced authors. In this process the authors are not limited to approaches situated in media studies; in fact the collection is characterized by its high degree of interdisciplinarity.
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