Religiöse Romane & Romaneske Religionen: Zu den Zwischenbereichen von Kult und Kunst

Backe, Hans-Joachim; Schmeling, Manfred (Hg.): From Ritual to Romance and Beyond. Comparative Literature and Comparative Religious Studies. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011.
Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich mit der Frage nach den Gemeinsamkeiten und Differenzen von religiöser und literarischer Imagination – eine durchaus traditionelle Frage der Literaturwissenschaft. Die Vielzahl an sehr unterschiedlich fokussierten Beiträgen und Materialien ist zugleich Potenzial wie auch Fallstrick. Es wird deutlich, wie vielfach verbunden Kult und Kunst sind, wie viele Berührungspunkte sich ergeben, aber auch wie viele Differenzen zu konstatieren sind, die Differenzierungen der Konzepte unbedingt notwendig machen. Jedoch sind es gerade die Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten, die das Forschungsfeld zu einem sehr fruchtbaren machen. Dasselbe gilt für diesen Band.
Kategorien oder Konzepte, ja auch auf den ersten Blick eingängige Begrifflichkeiten wie 'Ritual', 'Religion' und 'Roman' sind schwierig in der konkreten wissenschaftlichen Handhabung und Ausgestaltung. Dass sie schwer abzugrenzen sind in ihren genauen Definitionen, zeigt auch der vorliegende Sammelband. Dieser versucht, anschließend an die Studie von Jessie L. Weston aus dem Jahr 1920 mit dem Titel From Ritual to Romance, die Zwischenbereiche von religiöser und literarischer Imagination zu erkunden.
Die Beiträge, in der Mehrzahl literaturwissenschaftlich zu verorten, sind drei Schwerpunkten in der Auseinandersetzung mit Religion und Literatur zugeordnet, die zugleich die Überkapitel darstellen. Im ersten Teil wird eine tatsächliche Gegenüberstellung der symbolischen Systeme von Religion und Literatur unternommen. Im zweiten Teil wird vielmehr auf den religiösen Urgrund der Literatur verwiesen. Und im dritten Teil finden sich Untersuchungen von interreligiösen literarischen Dialogen.
Anschließend folgt mit dem vierten Teil ein etwas anders gearteter Fragenkomplex, nämlich der nach der Ethik als einem der Religion und der Literatur gleichermaßen zugehörigen Maßstab. In diesem anschließenden Themenbereich zeichnen sich am besten und eindrücklichsten einige Widersprüche und Polemiken rund um das Thema des gesamten Sammelbandes ab; hier divergieren die Meinungen der Autoren teils deutlich.
Die Absicht des Sammelbandes ist es, den spezifischen Beitrag, den die Vergleichende Literaturwissenschaft zu religiösen Fragenkomplexen leisten kann, zu verdeutlichen. Gemessen an der eigenen Zielvorgabe, lässt der Band zwar in seiner Vielzahl an Themen und Ansätzen grundlegende Aspekte der Diskussion aufscheinen, diese bleiben aber notwendig selektiv und eine zusammenfassende Verdeutlichung des literaturwissenschaftlichen Beitrags für religiöse Fragen bleibt man der Leserin schuldig.
Zur Repräsentativität des analysierten literarischen Materials ist zu sagen, dass Christentum und der europäische Westen dominieren; der afrikanische Kontinent und postkoloniale Fragen sind in keinem Beitrag untersucht worden. Wichtige Bezugspunkte der Diskussion wie etwa die Romantik als Epoche, in der die vorliegenden Fragen besonders vehement und neuartig diskutiert wurden, werden immerhin in einzelnen Artikeln benannt, etwa im Beitrag von Bettina Gruber. Zu diesen Punkten gehört auch die Bedeutung der Bibel, als westlichem sakralem Urtext, als transkulturell in ihren jeweiligen Übersetzungen, wie im Beitrag von Sylvie André anklingt.
Als theoretisch wichtige Denker werden immer wieder Derrida, Levinas, Kierkegaard und Agamben genannt. Eine besonders reflektierte Schau dieser Denker bietet der Beitrag von Elisabeth Løvlie. Sie denkt den in der Literaturwissenschaft konstatierten Tod des Autors mit dem Tod Gottes systematisch mit und stellt die Frage nach den ethischen Implikationen des Lesens. Diese Frage scheint mir im Licht theoretischer Diskussionen der Dekonstruktion wie etwa von Paul de Man (vgl. Allegories of Reading) sehr wichtig, denn hier ist der Akt des Lesens selbst in seinen Ungewissheiten und Unwägsamkeiten eine Tätigkeit, die immer auch ethisch beurteilt werden kann. Es geht nicht um eine ethische Aussage des Textes selbst, sondern um das Lesen als solches, das die Frage nach der Ethik neu stellt. Im Gegensatz dazu steht ein Beitrag wie von Harald Bost, der der Literatur den ethischen Charakter rundweg abspricht und die Autonomie der Kunst in einer herkömmlich-traditionellen Weise zu verteidigen sucht, jedoch nicht auf den Moment des Lesens und damit der Rezeption verweist.
An dieser Stelle scheint eine weitere implizit anwesende Frage auf, nämlich: Inwiefern können religiöse Partikularitäten in der Literatur und damit in der Kunst überhaupt aufbewahrt werden, da die Kunst in einer Vielzahl ihrer Definitionen doch inhärent nach Universalität strebt? Eine solche Vermutung, die geradezu das ethische, im Sinne eines humanistischen Moments der Kunst und Literatur betont, nämlich das ideelle, das Differenzen überschreitende Moment, wird im Beitrag von Michel Arouimi zu Kafkas Texten besonders deutlich. Bei Kafka, so beschreibt es Arouimi, bedeutet die Universalität die Parodie der Dogmen. In einer solchen Sichtweise werden auch Spannungen zwischen der Religion als Institution und Dogma, wenn auch nicht Metaphysik, und der Literatur deutlich.
Es fehlt im Band an einer Diskussion der Tradition der Hermeneutik, an einer Abgrenzung von Metaphysik, Ritual und Religion, an einer profunden Thematisierung der Performativität und eines Erfahrungsbegriffs sowie an einer Annäherung an die Frage nach der postmodernen und vielleicht postsäkularen Kondition der heutigen Welt. Zwar kann ein einzelner Sammelband nicht alle Forschung und Fragen gebührend abbilden. Gerade deswegen hätte eine nicht nur resümierende, sondern analytische und vertiefte Einführung dem Band gut getan und den einzelnen Beiträgen als Kontext dienen können.
Die Konzepte 'Ritual', 'Religion' und 'Roman' sind schwer abzugrenzende Konzepte. Im Sammelband wird dies immer wieder deutlich. Die Abgrenzung von Religion, Ritual, Metaphysik, Mystik und auch vom Mythos ist grundsätzlich schwierig. Für den Sammelband ist sie insofern erst recht problematisch, als sie nur schwerlich für alle Beiträge gleichermaßen zu leisten wäre. Teilweise ist das Religiöse hier schlicht mit einem Fremden-Exotischen vermengt und verliert dadurch jegliche Spezifizität. Für den Roman gilt ähnliches. Der Unterschied zwischen der Schrift des Romans und der Performativität etwa des Theaters wird im Band zu wenig beleuchtet. Auch hier hätte eine ausführlichere Rahmung durch die Herausgeber immerhin die Widersprüche und Gegensätze der Beiträge untereinander benennen und sie damit produktiv machen können. Trotz dieser Einschränkungen ist der vorliegende Band eine gute Einführung für Leser(innen), die sich just durch die aufscheinenden Widersprüche und Komplexitäten zu eigenen Nachforschungen inspiriert fühlen.
Schmeling Manfred; Hans-Joachim Backe (Hg.): From Ritual to Romance and Beyond. Comparative Literature and Comparative Religious Studies. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011. 320 S., broschiert, 48 Euro. ISBN: 978-3-8260-4583-7
Inhaltsverzeichnis
Section One
LITERATURE VS./AND RELIGION
John Burt Foster
Islamic Jihad in Tolstoy’s Khadzhi-Murat...23
Bettina Gruber
Literature and Religion: Features of a Systematic Comparison...35
Shigemi Inaga
Crime, Literature and Religious Mysticism: The Case of the Japanese Translator of Salman Rushdie’s Satanic Verses...45
Hans G. Kippenberg
From Shiite Rituals to Revolution in Iran 1978/79...59
Stéphane Michaud
L’absence ou le silence de Dieu dans la poésie contemporaine: Celan, Bonnefoy, Deguy...71
Section Two
THE MYTHICAL AND RELIGIOUS HERITAGE OF LITERATURE
Hans-Joachim Backe
The Creation of Literary Golems: Art and Artifice...89
Eduardo F. Coutinho
Logos and Mythos in Guimarães Rosa’s Fiction...101
Biagio D’Angelo
Identité nationale en Amérique Latine: entre mythe et tragédie...109
Kathleen L. Komar
“The Gods Made Us Do It“. Women as Sacrifice...121
Helena Bonito Couto Pereira
Mythes et rituels dans la construction d’identités nationales...133
Manfred Schmeling
Du rite au model cognitif: le labyrinthe et la disparition du ’grand récit’...141
Monika Schmitz-Emans
Cults of Memory and their Aesthetic Reflection...157
Steven P. Sondrup
Toward a Historiography of Literature Considered as a Gift...169
Section Three
INTERCULTURAL AND INTERRELIGIOUS ENCOUNTERS
Sylvie André
A la recherche d’un Grand Récit contemporain: nature et fonction du syncrétisme religieux dans les romans polynésiens...179
Chung Ho Chung
A Christian Approach to Buddhist Monk Poet Han Yong Un...191
Dorothy Figueira
Excess Baggage, Conjugal Devotion and the Subaltern Speaks!...207
Karl Maurer
Bajazet de Racine – une tragédie à profil inculturel?...219
Steven Shankman
(m)Other Power: Shin Buddhism, Levinas, King Lear...229
Ross Shideler
Gunnar Ekelöf’s Byzantium and the Unknown...239
Section Four
“FAITH IN LITERATURE“
Michel Arouimi
Kafka entre taoïsme et hassidisme...253
Anke Bosse
“Clash of Civilizations“ – Clash of Literatures?...265
Harald Bost
“Und die Moral von der Geschicht.“ Looking at Literature Beyond Good and Evil...275
Elisabeth Løvlie
Reading Religiously, the Secret à venir in Literature and Religion...281
Kitty Millet
The Victim as Mishnah...291
Tomo Virk
The Literary and Ethics...299
List of contributors...311
Religious Romance & Epic Religion: About the Elusive Realm of Cult and the Arts
This publication deals with the question of the similarities and differences between religious and literary imagination – a rather traditional question of the literary sciences. The multitude of diversely focused articles and materials presents at once the greatest potential and worst possible pitfall. It becomes clear how variously linked cult and the arts actually are, and how many points of convergence emerge, but also how many differences are to be stated that make processes of differentiation indispensable and absolutely necessary. However, it is exactly the contradictions and ambiguities that make this area of research so very fruitful and rewarding – just as this publication is.
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