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Ein Standardwerk zur Philosophischen Anthropologie

Eine Rezension von Dr. Mario Marino (Jena)

Fischer, Joachim: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Freiburg: Verlag Karl Alber, 2008.

Der Soziologe Joachim Fischer interpretiert zum ersten Mal die gewöhnlich mit den Namen Scheler, Plessner, Gehlen verknüpfte 'Philosophische Anthropologie' als autonomen Ansatz, der auf die Destruktion des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert mit einem nicht reduktionistischen Rückgriff auf das biologische Leben antwortet. Der Geist, den die Idealisten direkt, d.h. vom Subjekt her herleiteten, wird nunmehr "indirekt" (S. 519) aufgebaut. Durch Vergleiche zwischen Tier, Mensch und – bei Scheler und Plessner – Pflanze sowie durch spezielle Analysen des Trieblebens wird eine Sonderstellung des Menschen wieder behauptet und neu bestimmt. Auf der weitesten Quellenbasis und unter Berücksichtigung institutioneller, historischer Rahmenbedingungen rekonstruiert der erste Teil des Bandes meisterhaft die Geschichte der Philosophischen Anthropologie, während der zweite Teil den gemeinsamen begrifflichen, methodischen "Identitätskern" (S. 575) des Ansatzes herausarbeitet. 


Vor uns liegt ein Standardwerk zu einer der wichtigsten Denkrichtungen der deutschen Philosophie und Soziologie des 20. Jahrhunderts. Zwar war der Text schon 1997 zunächst in wesentlich kürzerer Fassung als Doktorarbeit an der Universität Göttingen und drei Jahre später in stark limitierter Auflage für die Universitätsbibliotheken vorgelegt worden. Durch die ausgeweitete Darstellung vieler Inhalte und die Berücksichtigung der Anregungen aus einer kontinuierlich wachsenden Forschung hat der Text aber nunmehr seinen Umfang mehr als verdoppelt und ist zu voller Größe aufgelaufen.

Der Band besteht aus zwei auch unabhängig voneinander lesbaren Teilen, die der Autor jedoch innerhalb eines präzisen Gesamtinterpretationskonzepts verbindet. Geschichte und Lehren der Philosophischen Anthropologie erlauben nämlich (trotz theoretischer Differenzen, historischer Verwerfungen und persönlicher und schulmäßiger Meinungsverschiedenheiten), von einem "Denkansatz" (S. 22) zu sprechen. Dieser verfüge über einen eigenen Kanon von Autoren und Texten, eine gemeinsame theoretische und methodologische Basis und eine eigene Stimme gegenüber der zeitgenössischen philosophischen Diskussion (vgl. S. 482 f.). Fischer verwendet dabei die Großschreibung 'Philosophische Anthropologie' zur Unterscheidung von der 'philosophischen Anthropologie' als Subdisziplin.

Der erste Teil (S. 19-478) erschließt als Geschichte der Philosophischen Anthropologie die intellektuellen Biographien der Hauptfiguren dieses geistigen Abenteuers. Der zweite Teil (S. 479-599) individuiert den gemeinsamen begrifflichen und methodologischen Kern, und von hier aus unterscheidet Fischer den Denkansatz von den anderen philosophischen Strömungen des Jahrhunderts.

Methodologisch stützt sich der erste Teil auf die kombinatorische Ausnutzung aller Arten von Quellen sowie auf die ständige Berücksichtigung der Verschränkung von intellektuellem Schaffen und institutionellen und historischen Dynamiken. Das Ergebnis ist ein philosophiegeschichtliches und kultursoziologisches Kapitel, das die Geschichte der Philosophischen Anthropologie in neun Phasen artikuliert. Der ersten Konzeption in den 1920er Jahren in Köln (vgl. S. 23-60) folgt 1927-1928 ein doppelter Geburtsakt mit Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos und Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (vgl. S. 61-93). Eine umgehende Stabilisierung des theoretischen und institutionellen Profils (vgl. S. 94-133) findet aber nicht statt, von 1934 bis 1944 sind allerdings neue Interventionen zu verzeichnen (vgl. S. 134-207): die Kulturanthropologie Rothackers (vgl. S. 135-152), die Anthropobiologie Gehlens (zu Der Mensch vgl. S. 165-173), Plessners meisterhafte Untersuchung zu Lachen und Weinen (vgl. S.188-194 und S. 232 ff.) und die Präzisierung des neotenischen Paradigmas durch Portmann (vgl. S. 197-205, besonders S. 204 ff.). Nach mühevoller Überwindung der Nachkriegswirren (vgl. S. 208-234) restrukturiert sich die Denkrichtung hauptsächlich durch die außerordentliche Erneuerungskraft Gehlens (vgl. S. 235-291, auch: S. 292-299) und anschließend durch Plessners systematische Wiederaufnahme des eigenen Ansatzes (vgl. S. 292-330; besonders S. 321-330). Das lange folgende Jahrzehnt (vgl. S. 331-449) ist dagegen gekennzeichnet von einer doppelten Bewegung von Rückgang und Driften. Dafür macht Fischer die ideologische Erstarrung der 1960er Jahre (vgl. S. 338-339 und S. 344) sowie die Artikulation einzelner Ausschnitte der Philosophischen Anthropologie in neuen theoretischen Kontexten (zu Schelsky, Bahrdt, Popitz und Claessens vgl. S. 393-424; zu Blumenberg S. 436-441; zu Marquard S. 441-445) verantwortlich. Eine "Dämmerung" (S. 470) legt sich schließlich auf den Denkansatz, sei es durch seine Historisierung, die zum Teil durch die Protagonisten selbst betrieben wurde, sei es durch Prozesse der Aufhebung in hermeneutische, sprachphilosophische oder neomarxistische Paradigmen (vgl. S. 450-478).

Diese Phasen werden von unterschiedlichen Ereignissen durchschritten, u. a. die auch postume Bedeutung der persönlichen Rivalitäten (Scheler und Plessner; Plessner und Gehlen); die anregende, schützende oder legitimierende Rolle, die eine Analyse des Trieblebens sowie der Philosophischen Anthropologie nahestehenden Autoren spielten (vgl. zu Nicolai Hartmann, S. 52-55, S. 175-182; Buytendijk, S. 48-52 u. 186 ff.); die Gegenaktionen und Hindernisse durch konkurrierende bzw. gegnerische Gruppen (phänomenologisch geprägte Existenzphilosophien, Frankfurter Schule, Hermeneutik) oder die fruchtbare Verwurzelung in der nachkriegszeitlichen akademischen Soziologie (Gehlen, Plessner und die zugehörigen Schüler).

Im zweiten, viel kürzeren Teil (S. 479-599) vervollständigt Fischer die eigene Arbeit, indem er systematisch für die programmatische und methodologische Einheit des Denkansatzes argumentiert. Die Philosophische Anthropologie sei eine originale Antwort auf die "Destruktion des Idealismus während des 19. Jahrhunderts" (S. 511). Dabei setze sie die Reflexion auf den menschlichen Geist nicht mehr direkt, also bei den "Leistungen der Subjektivität" an, sondern "indirekt" beim "Tatbestand des Lebendigen" (S. 519). Die Philosophische Anthropologie gehe hin zum Subjekt und durch einen "Objektpol" vor, der dem Subjekt nicht gegenübersteht, sondern vorher und unterhalb liegt: "zwischen Materie und Mensch" (S. 521). Dieser Pol korrespondiere mit dem Leben, verstanden in seiner organischen und funktionalen Korrelation mit der Umwelt. Ein solcher vitaler Nexus seinerseits werde vergleichend untersucht bis hin zum Aufweis der Sonderstellung des Menschen (vgl. S. 524), von ihr aus bis zum Denken von Einheit und Freiheit der menschlichen Natur und zur "Grundlegung der Kultur- und Naturwissenschaften als Formen menschlicher Erkenntnis" (S. 526).

In diesem – vielen Kritikern zufolge um den Preis übertriebener Homogenisierungen und Nivellierungen gewonnenen – "Identitätskern" (S. 575) liegt der Schlüssel zu Fischers Versuch der umfassenden Historisierung und Wiederbelebung der Philosophischen Anthropologie. Insofern jeder Institutionalisierungsprozess der Gefahr des Akademismus ausgesetzt ist, ist es nun ratsam, einen solchen Kern nicht wie eine Art Monolith zu betrachten, den man verehren oder verleugnen kann, oder wie einen Prüfstein für jedes Urteil. Vielmehr gilt es, ihn sozusagen prismatisch zu denken, als seien Systeme und Autoren der Philosophischen Anthropologie Brechungen des Lichts, das von ihnen aus auf die vergangenen und gegenwärtigen Gegenstände der Forschung fällt. Damit wird man einerseits den Anstrengungen der Klassiker gerecht, zur Definition eines philosophischen Paradigmas zu gelangen, und vermag andererseits, dessen Potential für die gegenwärtige Diskussion zu verifizieren. In beiden Fällen wird man Fischers Monographie als Handbuch auf höchstem Niveau und originales Theoriekonzentrat nicht übersehen können.


Fischer, Joachim: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Freiburg: Alber, 2009. 688 S., kartoniert (Studienausgabe), € 39. ISBN: 978-3-495-48369-5


Inhaltsverzeichnis


Vorwort
Einführung

1. Philosophische Anthropologie. Zur Realgeschichte des Ansatzes
1.1. Genese (1919-1927)
1.2. Durchbruch (1927/28)
1.3. Interregnum (1928-1934)
1.4. Neueinsätze (1934-1944)
1.5. Turbolenzen (1945-1950)
1.6. Konsolidierung (1950-1955)
1.7. Nachfolge (1955-1960)
1.8. Driften (1961-1969)
1.9. Rückgang (1969-1975)

2. Philosophische Anthropologie. Zur Philosophiegeschichte des Ansatzes
2.1. Philosophiegeschichtliche Lage
2.2. Denkungsart der Philosophischen Anthropologie
2.2.1. Identitätskern
2.2.2. Identitätskern trotz Differenz
2.2.3. Differenz im Identitätskern
2.2.4. Differenz zu anderen Denkansätzen
2.3. Denkort der Philosophischen Anthropologie

Literatur
Zeittafel
Personenregister
Sachregister


A Key Work on German Philosophical Anthropology

German Philosophical Anthropology commonly associated with Scheler, Plessner, and Gehlen is interpreted for the first time by the sociologist Joachim Fischer as an autonomous philosophical approach. It appears as an answer to the destruction of German classical Idealism during the nineteenth-century: while Idealists directly derived the Geist from subjectivity, Philosophical Anthropology constructs it "indirectly" (p. 519). Through non-reductionist comparative analysis of impulse life and biological forms of mankind, animal, and – in Scheler and Plessner – plant, each author of Philosophical Anthropology gives confirmation of and new definition to man's particular place (Sonderstellung). Fischer divides his work into two parts: in the first he masterfully reconstructs the history of Philosophical Anthropology by exploring both a considerable amount of sources and the institutional and historical contexts; in the second he elaborates its conceptual and methodological "identity core" (p. 575).


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